Bundessozialgericht: „Hohe Hürden für Cannabis auf Kassenrezept„
Das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel hat am vergangenen Donnerstag, den 10. November 2022, mehrere grundsätzliche Fragen über die Rezeptvergabe von Cannabis als Medizin geklärt. Seit 2017 gilt das Gesetz, welches die Abgabe von medizinischem Cannabis an Patienten mit schwerwiegenden Krankheiten zur Schmerz- und Krampflinderung erlaubt. Vier Patienten, mit unterschiedlichen Erkrankungen, haben vor dem BSG für die Übernahme durch die Krankenkassen geklagt. Drei der vier Kläger sind in ihrem Revisionsantrag gescheitert, das BSG habe jedoch für viele Patienten, Antragsteller und Krankenkassen offene Fragen geklärt.
Die Tagesschau hat dazu einen knapp vierminütigen Videobeitrag in der ARD-Mediathek hochgeladen.
Ist der vorausgegangene Konsum als Genussmittel ausschlaggebend?
Ob eine Suchtmittelabhängigkeit der Verordnung von Cannabis entgegensteht, hat der Arzt im Einzelfall ebenfalls sorgfältig abzuwägen. Es obliegt dem Vertragsarzt, ob eine Kontraindikation vorliegt oder welche Vorkehrungen gegen einen Missbrauch des verordneten Cannabis zu treffen sind.
Reicht eine ausreichend gute Begründung des Arztes für ein Cannabis Rezept?
Wenn der behandelnde Arzt hierfür eine besonders sorgfältige und umfassende Einschätzung abgegeben hat. Sind die hohen Anforderungen an diese Einschätzung erfüllt, darf die Krankenkasse das Ergebnis der ärztlichen Abwägung nur darauf hin überprüfen, ob dieses völlig unplausibel ist.
Was definiert eine schwerwiegende Erkrankung in Hinsicht auf eine Cannabis Therapie?
Eine Erkrankung ist schwerwiegend, wenn sie lebensbedrohlich ist oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt. Lebensqualität umschreibt das Vermögen, die Befriedigung von Grundbedürfnissen selbst zu gewährleisten, soziale Beziehungen einzugehen und aufrechtzuerhalten sowie am Erwerbs- und Gesellschaftsleben teilzunehmen. Die dauerhafte und nachhaltige Beeinträchtigung der Lebensqualität ergibt sich deshalb nicht allein aus einer ärztlich gestellten Diagnose. Entscheidend sind Funktionsstörungen und -verluste, Schmerzen, Schwäche und Hilfebedarf bei den Verrichtungen des täglichen Lebens, welche die Lebensqualität beeinträchtigen.
Darf Cannabis auf Rezept in Betracht gezogen werden, wenn es noch Alternativtherapien (Beispiel: Opiate / Opioide) gibt?
Cannabis darf auch verordnet werden, wenn noch Standardtherapien zur Verfügung stehen. Somit entfällt der Ablehnungsgrund: „Es stünden dem medizinischen Standard entsprechende alternative Methoden zur Verfügung“. Hierfür muss der behandelnde Arzt aber den Krankheitszustand umfassend dokumentieren, Therapiealternativen analysieren und die Erfolgschancen und Risiken der Therapien sorgfältig abwägen. Die Krankenkassen dürfen eine solche ärztliche Einschätzung im Gegenzug nur daraufhin überprüfen, ob die Grundlagen der Entscheidung vollständig und nachvollziehbar sind und das Abwägungsergebnis nicht völlig unplausibel ist. Versicherte haben aber nur Anspruch auf Versorgung mit dem kostengünstigsten Mittel, wenn mehrere Mittel gleich geeignet sind. Dem behandelnden Arzt steht bei der Auswahl von Darreichungsform und Menge insoweit kein Einschätzungsspielraum zu.
Die begründete Einschätzung für eine Behandlung mit Cannabis muss folgendes beinhalten:
- Dokumentation des Krankheitszustandes mit bestehenden Funktions- und Fähigkeitseinschränkungen aufgrund eigener Untersuchung des Patienten
und ggf. Hinzuziehung von Befunden anderer behandelnder Ärzte - Darstellung der mit Cannabis zu behandelnden Erkrankung(en), ihrer Symptome und des angestrebten Behandlungsziels
- bereits angewendete Standardbehandlungen, deren Erfolg im Hinblick auf das Behandlungsziel und dabei aufgetretene Nebenwirkungen
- noch verfügbare Standardtherapien, deren zu erwartender Erfolg im Hinblick auf das Behandlungsziel und die zu erwartenden Nebenwirkungen
- Abwägung der Nebenwirkungen einer Standardtherapie mit dem beschriebenen Krankheitszustand
und den möglichen schädlichen Auswirkungen einer Therapie mit Cannabis.
(In die Abwägung einfließen dürfen dabei nur Nebenwirkungen, die das Ausmaß einer behandlungsbedürftigen Erkrankung erreichen.)
Welche Cannabispräparate dürfen grundsätzlich auf Rezept verordnet werden?
Bei der Auswahl der Darreichungsform und der Verordnungsmenge hat der Vertragsarzt das allgemeine Wirtschaftlichkeitsgebot zu beachten. Insoweit steht ihm keine Einschätzungsprärogative zu. Bei voraussichtlich gleicher Geeignetheit von Cannabisblüten, Cannabisextrakten und Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon besteht nur ein Anspruch auf Versorgung mit dem kostengünstigsten Mittel. Die Krankenkasse ist berechtigt, trotz Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen die Genehmigung der vom Vertragsarzt beabsichtigten Verordnung zu verweigern und auf eine günstigere, voraussichtlich gleich geeignete Darreichungsform zu verweisen.
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